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Verlegung 2019

 

Stadtgeschichtliche Aspekte der „Euthanasieaktion“ in Frankfurt (Oder) von Konrad Tschäpe

 

Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Griechischen und ist zu übersetzen etwa mit „schönes Sterben“. Er wurde während des Nationalsozialismus verwendet, um eines der ersten Massenverbrechen dieser totalitären Herrschaft zu tarnen und schönzureden: Die gezielte massenhafte Vernichtung vermeintlich „lebensunwerten Lebens“. Was lebenswert und –unwert war, bestimmten während der NS-Herrschaft einige Wenige. Die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ mündet sowohl in praktischer wie auch ideologischer Hinsicht direkt in den Rassenmord, also den Holocaust, den Mord an Juden, Sinti und Roma und anderen, deren Leben man für lebensunwert erklärte. Sie führt zu einer Entgrenzung der Unmenschlichkeit und Gewalt, die in dieser Form historisch einmalig ist.

 

Insgesamt 300.000 Menschen fielen der Euthanasieaktion in Deutschland und den besetzten Gebieten zwischen 1939 und 1945 zum Opfer. Der Terror gegen Kranke, Pflegebedürftie oder für krank- oder randständig Erklärter beginnt aber bereits 1933/34 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, durch das kranke und auffällige Menschen zu Zwangssterilisierungen freigegeben wurden.

 

Obwohl der Kenntnisstand über vererbbare Leiden gering war, setzte man schon hier Menschen Eingriffen aus, die ihr Leben irreversibel veränderten. Neben Behinderten und Kranken betraf dies Alkoholiker, „Asoziale“, Straffällige, „Arbeitsscheue“ oder KZ-Häftlinge. Etwa 400.000 Menschen fielen den Zwangssterilisierungen bis 1945 zum Opfer, Tausende starben an dem operativen Eingriff. Viele Hunderte oder Tausende begingen aus Scham oder Verzweiflung über die demütigende Operation Selbstmord. Damit nicht genug, in den Heil- und Pflegeanstalten wird nach und nach „Sonderkost“ eingeführt und die Pflegesätze herabgestuft. Mangelernährung ist die Folge: Schon jetzt steigen in fast allen Anstalten die Sterberaten.

 

Gezielt ermordet wurden ab 1939 erstmals Kinder mit meist schweren bis schwersten Behinderungen. Etwa 5.000 Kinder wurden in ca. 40 Kinderfachabteilungen von Anstalten und Krankenhäusern mit Luminal oder Morphin zu Tode gespritzt. Die Giftspritzen waren besonders wirksam, wenn man die Opfer vorher Hunger leiden ließ. Viele starben auch direkt qualvoll an Unterernährung. Gerade in der zweiten Euthanasie-Phase nach August 1941 spielte diese Mordmethode eine herausragende Rolle und wurde immer weiter verfeinert. In direkter Nachbarschaft zum Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) wurde im besetzten Polen sofort mit massiven Krankentötungen begonnen, wobei das Krankenpersonal und diejenigen Polen, die man zur Beerdigung der Leichen zwang, gleich mit ermordet werden. Im Oktober 1939 wurden dabei im Fort VII der Festung Posen erstmals Menschen mit Kohlenmonoxid vergast.

 

In der ersten Euthanasiephase zwischen 1939 und 1941 wurden massenhaft Kranke und Pflegebedürftige ermordet, großteils in extra eingerichteten Gaskammern. Sie befanden sich in sechs zentral eingerichteten Tötungsanstalten: in Brandenburg an der Havel, Hadamar, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim bei Linz und Bernburg an der Saale. Etwa 70.000 Menschen verloren bis zur offiziellen Aussetzung der Euthanasieaktion Ende August 1941 auf diese qualvolle Weise ihr Leben. Organisiert und durchgeführt wurden die Morde von mehreren Tarnorganisationen, welche die „Kanzlei des Führers“ gegründet hatte. Verantwortlich waren der Chef der „Kanzlei des Führers“, Philipp Bouhler und Hitlers Leibarzt Karl Brandt.

Die Ermordung Kranker und Pflegebedürftiger war in der Öffentlichkeit nicht geheimzuhalten, sie führte zum Protest Angehöriger und der Kirchen. Den wohl deutlichsten öffentlichen Protest gegen die Mordaktion äußerte am 3. August 1941 Bischof Clemens August Graf von Galen in einer Predigt in Münster. Der Protest bewirkte, so die auch heute noch häufig zu treffende Annahme, dass Hitler nachgeben musste und die Euthanasieaktion gestoppt wurde. Diese Annahme ist jedoch falsch. Was tatsächlich zumindest weitgehend gestoppt wurde, war das Töten von Anstaltsinsassen in Gaskammern ab dem 24. August 1941.

 

Das Töten selbst hingegen wurde bis Kriegsende niemals eingestellt, es wurde von nun an lediglich dezentral organisiert, der Kreis der Opfer wurde ausgeweitet, und die Tötungsmethoden änderten sich. Auch einige Gasmordanstalten in Deutschland wurden weiterbetrieben: Zur Ermordung von KZ-Häftlingen, die als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden. Diese Aktion ist nach einem Tarn-Aktenkürzel als „Aktion 14f13“ in die Geschichtsbücher eingegangen, etwa 20.000 Menschen fielen ihr zum Opfer. So kam es, dass selbst etliche Täter, die nach Kriegsende vor Gericht gestellt und befragt wurden, von einem Stopp der Euthanasieaktion nichts bemerkten. Für Auschwitz bedeutet der Vergasungsstopp eine Zäsur: Hatte man zuvor die zu Ermordenden der 14f13-Aktion in Vergasungsanstalten verbracht, beginnt man hier wenige Tage später selbst, mit Gas zu morden. Am 3. September 1941 beginnt der KZ-Arzt Schwela damit, rund 600 sowjetische Kriegsgefangene und knapp 300 kranke Häftlinge erstmals mit Zyklon B zu ermorden. Aber auch die Leitung und sämtliche Kommandanten der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka übernehmen Euthanasie-Funktionäre. Sie unterstehen weiterhin der Kanzlei des Führers, dort bleiben ihre Personalakten, von dort werden für sie Lebensmittel eingekauft und das Gehalt ausgezahlt. Urlaub machen sie in Erholungsheimen von T4, die der Kanzlei des Führers untersteht. Post wird über die Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin mit dem Vermerk „Osteinsatz“ abgewickelt.

 

Es wird klar, dass die „Euthanasie“ der NS-Zeit über die Ermordung Kranker und Pflegebedürftiger weit hinausging. Während der „Euthanasie-Aktion“ wurden auch Menschen aus Altersheimen, Obdachlose, sogenannte „Arbeitsscheue“, Alkoholiker, verstörte Opfer der Bombardierungen oder traumatisierte und verletzte Soldaten ermordet, aber etwa auch vollkommen gesunde, teilweise jüdischstämmige Kinder (sogenannte Halb- und Vierteljuden). Kranke und pflegebedürftige Menschen jüdischer Herkunft gehörten zu den ersten, derer man sich durch Mord entledigte. Auch Menschen, die politische Kritik äußerten, konnten für psychisch krank erklärt und getötet werden. Der Massenmord beabsichtigte, sogenannte „unnütze Esser“ zu beseitigen, Kritiker auszuschalten sowie vermeintlich „lebensunwertes Leben“ zu vernichten.

 

In der zweiten Phase der Euthanasie sind Hunger und Gift die Mittel der nicht selten qualvollen Morde. Die Angehörigen werden nach dem Tod der Patienten zwar benachrichtigt. Doch so gut wie nichts stimmt in den Angaben, die man über den Toten macht. Trostbriefe werden meist nach Schema verfasst. Die Vergasungsärzte unterschreiben die Totenscheine mit Falschnamen. Sterbedaten sind gefälscht – auch um noch Pflegesätze nach dem Tod des Pflegebedürftigen abzukassieren –, ebenso grundsätzlich Sterbeort und selbstredend Todesursache. Um diese Urkundenfälschungen zu bewerkstelligen, verfügen die Mordanstalten über eigene Sonderstandesämter. Die Urnen, die man an die Angehörigen versendet, enthalten „nie“ – so ausdrücklich der Euthanasie-Spezialist Ernst Klee – die Asche der Ermordeten.

Den Angehörigen der verschiedenen Anstalten fielen die vom plötzlichen Tod gefolgten Verlegungen ihrer Verwandten auf. Schnell war klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte. Die Busse, die voll mit Menschen zu den Mordanstalten fuhren und stets leer zurückkehrten werden in der Öffentlichkeit bemerkt. In der Nähe der Anstalten sind penetrante, ekelerregende Gerüche zu spüren – von den verbrannten Leichen. In der Umgebung der Mordanstalt Hartheim redet man den Anwohnern ein, der Geruch käme durch die Destillation von Altölen und Abfallölen. Wer allerdings unsinnige Gerüchte über Menschenverbrennungen verbreite, müsse mit der Einlieferung in ein KZ rechnen. (Klee) Am allerwenigsten war die Mordaktion vor den Patienten und Kranken selbst geheim zuhalten. „Es gibt Beispiele über Beispiele, dass die Opfer wissen, was mit ihnen geschieht.“ – schreibt Ernst Klee. Selbst Schwerstbehinderte ahnen oftmals, was ihnen bevorsteht, wie vielfach bezeugt ist.

 

Bezüge zu Frankfurt (Oder)

 

Im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) lagen (mindestens) zwei wichtige Anstalten, die mit der Euthanasiegeschichte zu tun hatten, eine dritte Anstalt in Sorau ist bisher kaum untersucht worden, wir wissen lediglich, dass sie an Sterilisationen beteiligt war. Bedeutsam war vor allem die 1904 gegründete Landes-Heilanstalt in Meseritz-Obrawalde, die ursprünglich zur Provinz Posen gehörte. Später kam die Anstalt zu Brandenburg, vertraglich wurde 1939 geregelt, dass nun Kranke aus Berlin hierher verlegt werden konnten. Leiter der Anstalt war Walter Grabowski, ein Nichtmediziner, der dafür offenbar bereits in die frühen Krankenmorde in Polen verwickelt war. Ab Sommer 1942 wurden hier Menschen massiv mit Giftspritzen ermordet oder durch Zwangsarbeit in Fabriken und Industrie – ähnlich wie in den deutschen Konzentrationslagern. Insgesamt verloren hier etwa 10.000 Kranke auf diese Weise ihr Leben, erhalten sind 4.000 Krankenakten.  In einem erhaltenen Register für das Jahr 1944 werden 3948 Personen registriert, die eingeliefert werden. Von diesen knapp 4000 Menschen überleben höchstens 134 Personen. Die Ermordeten wurden in Massengräbern im Umfeld der Anstalt bestattet oder im Krematorium der Stadt Frankfurt (Oder) verbrannt.

 

Weiterhin lag die Heil- und Pflegeanstalt Landsberg an der Warthe im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder). Wieweit sie in die Mordaktionen der zweiten Euthanasieaktion eingebunden war, wissen wir nicht. Auffällig ist die Verdoppelung der Todeszahlen in Landsberg in der Zeit der zweiten Phase der Euthanasie. Dies deutet auf gezielte Patientenmorde auch in dieser Anstalt hin. Sie wird aber auch als eine von reichsweit elf zentralen Sammelstellen für geisteskranke Ostarbeiter und Polen genannt, hier sollen sie aus den Gebieten Pommern, Mecklenburg, Kurmark und Berlin dorthin verbracht werden.

 

Die Stadt Frankfurt (Oder) selbst hatte zumindest keine eigene größere Anstalt, aus der während des Nationalsozialismus Menschen direkt ermordet werden konnten. Auf dem Gelände der Wichern-Diakonie befand sich damals ein „Evangelisches Fürsorgeheim für Mädchen“, in dem bis zu 150 „sittlich gefährdete“ Mädchen untergebracht waren bzw. Obdach und Schutz fanden. Auch Mädchen mit geistigen Beeinträchtigungen hätten „hin und wieder“ Aufnahme in diesem Heim gefunden; wie hoch ihr Anteil war, lässt sich wohl nicht mehr ermitteln. Theoretisch konnten auch „sittlich gefährdete“ Menschen als Psychopathen oder „ethisch Schwachsinnige“ erfasst werden und in die Maschinerie von Erbgesundheitsgerichten und Euthanasie geraten. Dass das Frankfurter Fürsorgeheim hiervon betroffen war, ist bisher nicht bekannt geworden. Menschen, die aus Frankfurt kamen und als behindert oder psychisch krank eingestuft wurden, kamen vielmehr häufig in die Anstalten in Potsdam oder Landsberg/Warthe. Von hier aus wurden sie in der zentralen Phase der Euthanasie häufig nach Brandenburg oder Bernburg verschickt, wo sie vergast wurden. Am Bundesarchiv konnten gut 40 gebürtige Frankfurter ermittelt werden, die auf diese Weise den Tod fanden.

 

Eine Rolle spielt der Frankfurter Hauptfriedhof als letzte Ruhestätte für Euthanasieopfer. Stichprobenartige Untersuchungen der Beerdigungsregister brachte die Namen von 9 Menschen zum Vorschein, die an Euthanasieopfer erinnern, die in Frankfurter Erde liegen. Die Untersuchung der Beerdigungsregister ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Zudem wurden auch den Friedhöfen zu NS-Zeiten systematisch gefälschte Angaben zu Todesart, Todesort und –datum übermittelt. Deshalb sind für alle – wichtigen! – Hinweise, die sich in den Friedhofsakten finden, weitere Nachforschungen notwendig. Die Asche der hier beerdigten Menschen ist – ebenfalls aufgrund solcher Fälschungen – mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht die Asche derjenigen, deren Namen auf den Urnen angegeben ist. Insofern erinnern die Urnengräber heute in doppelter Weise an Opfer der Euthanasiemorde: an diejenigen, in deren Namen die Asche beigesetzt wurde – und an das anonyme Euthanasie-Opfer, dessen Asche tatsächlich in Frankfurter Erde ruht. Sie erinnern auch an die bis in letzte Details gehende, abgrundtiefe Menschenverachtung der Euthanasiemörder.

 

Darüber hinaus war Frankfurt als „Landeshauptstadt“, also als Sitz des Regierungsbezirks, ein Ort, an dem sich etliche Gerichte befanden. Unter diesen Gerichten gab es auch das sogenannte Erbgesundheitsgericht, in dem über den gesundheitlichen Zustand von Menschen befunden wurde. Insgesamt gab es über 200 Erbgesundheitsgerichte im Deutschen Reich, innerhalb der Provinz Brandenburg befanden sich weitere Gerichte in Neuruppin, Potsdam und Prenzlau sowie speziell im Regierungsbezirk Frankfurt (Oder) Cottbus, Guben und Landsberg/Warthe.

 

Dieses Gericht ordnete – üblicherweise nach Aktenlage – bisher ungezählte Sterilisationen von Menschen an, die als erbkrank oder in besonderer Weise für randständig befunden wurden. Die Zwangssterilisationen wurden in der Stadt Frankfurt vor allem im Städtischen Krankenhaus sowie dem Lutherstift durchgeführt, wo vom Frankfurter Erbgesundheitsgericht Verurteilte – auch aktenkundig gegen deren ausdrücklichen Willen – sterilisiert wurden. Mindestens eine Person, die vom Frankfurter Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation verurteilt wurde, starb an den Komplikationen des Eingriffs.

 

Richard Pawlak

 

Richard Pawlak wird 1912 in Frankfurt (Oder) in die Familie eines Reichsbahnbeamten geboren und arbeitet als Bürogehilfe einer Lebensversicherungsgesellschaft. Als er sich – etwa zwanzigjährig –auffällig verhält, kommt er zunächst in das Frankfurter Städtische Krankenhaus. Dort stellt ein Arzt aus der Inneren Abteilung bei seinem Patienten „Jugendirresein (Schizophrenie)“ fest. Richard Pawlak wird kurz darauf in der Brandenburgischen Landesanstalt Landsberg a.W. in Behandlung genommen.

In der Krankenakte findet sich ein umfangreicher Briefwechsel mit den Eltern von Richard Pawlak. Bei der Lektüre bekommt der Leser eine Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn ein 20jähriger durch Krankheit plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Man spürt die Sorge der Angehörigen, die sich dazu in recht weiter Entfernung vom Sohn befinden. Sie können hauptsächlich über Briefe und Postkarten mit der Anstaltsleitung den Kontakt aufrechterhalten, um auf diese Weise zumindest rudimentäre Informationen zum Befinden des Angehörigen zu erhalten. So wie vielleicht heute bei Krebspatienten wird erst nach und nach klar, welchen Verlauf die Krankheit nimmt. Im Fall von Richard Pawlak schwinden die zunächst bestehenden Hoffnungen der Angehörigen auf Heilung des Sohnes und Bruders über einen sich wahrscheinlich endlos hinziehenden Zeitraum.

Die lakonische Notiz „20.4.[19]40. Wird mit Sammeltransport überführt“ in seiner Krankenakte zeigt den Transport in die Todesanstalt an. Paul Reinhard wird in Brandenburg ermordet. Die Akten des Frankfurter Hauptfriedhofs verzeichnen ein Urnengrab für Richard Pawlak in dessen Heimatstadt.

 

Quelle: Bundesarchiv BA R179-17541

 

Dorothea Büttner, geborene Raschke

 

Über das Schicksal von Dorothea Büttner ist nicht viel bekannt. Sie wird 1880 in Ziebingen Krs. Weststernberg geboren. Im Alter von 57 Jahren muss sie eine Malariakur über sich ergehen lassen, wird im Folgejahr jedoch abermals krank, leidet an Sprachstörungen, Gedächtnisschwäche und schließlich Halluzinationen. Zu diesem Zeitpunkt lebt sie in „Frankfurt/O., Berlinerstr. 18“. In Frankfurt wird sie zunächst im städtischen Krankenhaus aufgenommen, dann in die Brandenburgische Landesanstalt zu Landsberg a.W. überwiesen. Dort befindet sich seit knapp einem halben Jahr bereits ihr Ehemann Heinrich, der offenbar allerdings bereits gut ein Jahr nach der Einweisung von Dorothea Büttner verstirbt.

Ihre Krankenakte fällt insofern auf, als sie vergleichsweise wenige und seltene Einträge enthält. Nach fünf Jahren NS-Herrschaft hat die Behandlung von Hilfebedürftigen von vornherein keine Priorität mehr. An lediglich zwölf Tagen ihres knapp zweijährigen Aufenthaltes in der Landsberger Anstalt werden Notizen zu ihrer Krankengeschichte vermerkt. Dann wird sie in den Tod geschickt. Der letzte lakonische Eintrag zeigt das Datum, an dem sie ihrer Ermordung entgegengeht:„22.5.[1940] Mit Sammeltransport verlegt.“ Laut Untersuchungen von Horst Joachim befindet sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ein Urnengrab für Dorothea Büttner.

 

Quelle: Bundesarchiv: BA R179/2939

 

Heinz Reimann

 

Heinz Reimann wird 1928 in Frankfurt (Oder) in sehr ärmliche Verhältnisse geboren. Seine Mutter ist alleinerziehend. Sie wohnt in der Badergasse 7, der Name des Vaters wird in den Dokumenten verzeichnet, sein Aufenthaltsort jedoch ist laut Aktenvermerk unbekannt. Mit oder bald nach der Geburt wird bei dem Kind Epilepsie festgestellt und nach einer Pflegemöglichkeit gesucht. In dieser Situation ist Julius Rosenbaum aus der Richtstraße 57 in Frankfurt (Oder) bereit, die Vormundschaft für das Kind zu übernehmen. Julius Rosenbaum ist jüdischer Herkunft und wird selbst 1944 in Auschwitz ermordet, für ihn wurde in Frankfurt ein Stolperstein verlegt. Als Grund für die bevorstehende Einlieferung wird angegeben: „Weil für das Kind außerhalb einer geschlossenen Anstalt nicht ausreichend gesorgt werden kann. Die Mutter ist auch krank (lungenkrank).“ Im Alter von gut zwei Jahren wird Heinz tatsächlich in der Brandenburgischen Landesanstalt zu Potsdam aufgenommen. Wie sich später zeigen wird, hat er offenbar große Schwierigkeiten beim Lernen, kann sich teilweise nicht gut konzentrieren oder manchmal schwer seinen Frust kontrollieren. Heinz hat eine kleine Schwester, die sieben Monate alt ist, als Heinz in die Anstalt eingewiesen wird. Die Akte enthält einen umfangreichen Briefwechsel zwischen der Anstaltsdirektion und der Mutter, der die Schwierigkeiten der Alleinerziehenden dokumentiert, den Sohn in Potsdam zu besuchen: ständig ist jemand krank oder die Anstalt erteilt Besuchsverbot wegen dort

grassierender Krankheiten. Am 30. August 1938 wird verfügt, dass Heinz Reimann nach Brandenburg-Görden verlegt wird, die Verlegung erfolgt gleich wenige Tage später. Für die Angehörigen ist es nun automatisch noch schwieriger, das Kind zu sehen. Von dort wird er am 31. Januar 1939 „zu gegebener Zeit“ zur Unfruchtbarmachung angemeldet, der Antrag wird dann am 13. September 1939 „wegen des jugendlichen Alters“ zurückgezogen. Ein zynisch mit „Epikrise“ überschriebenes Dokument in seiner Krankenakte ist in Wirklichkeit sein Todesurteil. Der letzte Satz lautet: „21.5.40 Wird heute auf Verfügung des Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt.“ Tatsächlich wird der Junge an diesem Tag ermordet. Laut Untersuchungen von Horst Joachim befindet sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ein Urnengrab für Heinz Reimann.

 

Quelle: Bundesarchiv BA R179-8152

 

 

[1] https://www.gedenkort-t4.eu/de/historische-orte/q4bdb-landesheilanstalt-meseritz-obrawalde#schnellueberblick (06.01.2019)

 

 

 

Verlegung 2022:

 

Wiesenstr. 26 - heute: Narutowicza, Europa - Kita Pinokico Słubice

Helmuth Johannes Flohr (Konrad Tschäpe)

 

Über das kurze Leben von Helmuth Johannes Flohr ist nicht viel bekannt. Er wird am 16. Januar 1928 in Frankfurt (Oder) geboren, die Eltern wohnen zu dieser Zeit in der Wiesenstraße 26. Als das Kind gut ein Jahr alt ist, wird es am 1. November 1930 „wegen geistiger Minderbegabung“ – wie es in der Akte heißt – in das Wilhelmstift der Brandenburgischen Landesanstalt zu Potsdam eingewiesen. Hier diagnostizieren die Ärzte einige Jahre später Epilepsie, wobei bei späteren Untersuchungen aber keine hirnorganischen Ursachen gefunden werden. Die Familie von Helmuth Johannes lebt in denkbar prekären Verhältnissen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass der Vater im Ersten Weltkrieg verwundet wurde und nun als Schwerbeschädigter mit den Folgen leben muss. Er arbeitet als Anstreicher, obwohl er seinen rechten Arm schwer bewegen kann, und hat 1939 sechs weitere Geschwisterkinder des Jungen zu versorgen. Die Familie muss mehrfach umziehen und wohnt 1936 in einer „Kellerwohnung, die das ganze Jahr hindurch feucht ist“, wie es in einem Dokument in der Akte zu Helmuth Johannes heißt. Am 25. August 1938 wird das Kind von Potsdam nach Brandenburg-Görden überwiesen, wo wenig später die Unfruchtbarmachung beantragt, aber wohl nicht durchgeführt wird. Die Ende 1939 erstellte Diagnose, in der es zusammenfassend heißt, das Kind sei dauernd anstaltspflegebedürftig, kommt einem Todesurteil gleich. Am 9. Mai 1940 wird in einem letzten Eintrag der Krankenakte vermerkt: „Wird heute auf Verfügung des Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt.“, was mit zwei Unterschriften bekräftigt wird. Auf dem Aktendeckel ist zynisch „ausgeschieden“ für den 9. Mai 1940 vermerkt. Tatsächlich wurde das zwölfjährige Kind an diesem Tag ermordet. Auf dem Frankfurter Hauptfriedhof findet sich Untersuchungen von Horst Joachim zufolge ein Urnengrab für Helmuth Johannes Flohr.

 

 

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Stand: 19.11.2022